Das Verhalten der Gänse

Das Verhalten der Gänse

1. Das Jungtieralter

Unter den Geflügelarten zeichnen sich die Gänse durch eine besonders enge Bindung zueinander aus. Mittelpunkt ihrer sozialen Gemeinschaft ist die Familie, d. h. das Elternpaar mit seinen Kindern. Selbst in Großherden bleibt diese Organisation erhalten, denn sie sind nichts anderes als mehr oder weniger lockere Vereinigungen einzelner Familien. Bei den wildlebenden Ahnen unserer Hausgans, den Graugänsen, besteht eine eindeutige Einehe. Je ein Ganter und eine Gans schließen sich zum Paar zusammen, dass lebenslang beisammen bleibt. Durch die Domestikation (Haustierwerdung) lockerte sich diese Bindung, so dass heute mehrere Gänse mit einem Ganter als soziale Einheit oder als Zuchtstamm auftreten.

Die Kontaktaufnahme der Gössel mit der brütenden Gans und den Geschwistern in den benachbarten Eiern beginnt bereits während der Brut. Das Gössel äußert zwei Tage vor dem Schlupf einen dem Weinen vergleichbaren pfeifenden "Wi"- Laut, den es bei starker Abkühlung oder dem Eintrocknen der Eihaut, also bei Schwierigkeiten während des Schlupfes hören lässt und eine Vorstufe des Schnatterns, wenn sich das Ei nach der Abkühlung wieder erwärmt oder die Eihaut angefeuchtet wird oder als Antwort auf Lautäußerungen der brütenden Gans oder der anderen Gössel in den benachbarten Eiern. Außerdem beherrscht das Gössel (allerdings erst nach dem Schlupf) einen leisen trillernden Schlaflaut. Sobald das Gössel stehen kann, verbindet es den "Wi"- Laut mit Halsvorstrecken ( Bild 1 ). Diese Geste leitet von nun an jede Kontaktaufnahme mit den Eltern und Geschwistern ein. Im Alter von wenigen Tagen beginnen unter den Gösseln bereits die Rangkämpfe. Sie werden ausgelöst, wenn sich zwei von ihnen frontal mit gestreckten Hälsen und gesenkten Köpfen gegenüberstehen. Etwa am 12. Lebenstag steht die Rangordnung fest. Die unterlegenen Gössel wenden sich fortan mit gestrecktem Hals zur Seite, wenn sie Ranghöheren begegnen, sehen also an jenen vorbei, statt diese starr anzublicken. Genau so verhalten sich die erwachsenen Gänse. Seitliches Vorbeisehen am Partner unter Schnattern und Halsvorstrecken ( Bild 2a ) stellt ihre Unterwürfigkeitsgebärde ( Bild 3a ) dar, durch die sie weitere Auseinandersetzungen vermeiden. Gänseküken zeichnen sich durch eine stark ausgebildete Prägungsbereitschaft aus, wie sie außerdem nur noch die Puten besitzen. Bei ihnen ist die Fähigkeit, sich den Lebewesen eng anzuschließen, die sie zuerst erblicken, bis zum Äußersten entwickelt. Unter natürlichen Aufzuchtbedingungen prägen sich so die Gössel auf ihre Mutter und Geschwister und bekommen dadurch eine feste Bindung an ihre Artgenossen. Bei künstlicher Brut tritt oft der Mensch an die Stelle der Mutter und wird als vermeintlicher Artgenosse angenommen, dem sich die Gössel anschließen, dem sie folgen und den sie später zum Sexualpartner wählen, während sie andere Gänse nicht beachten. Zur Verhütung solcher Fehlentwicklung genügt es, die Gössel nach dem Abtrocknen zusammen zu bringen. Der soziale Bindungstrieb ist bei Gänsen sehr stark ausgebildet. Allein gehaltene Gössel suchen z. B. so intensiv nach einem Partner, dass sie darüber die Futteraufnahme vergessen und Zugrunde gehen können. Die Bindung an die Familie gehört bei ihnen zu den wichtigsten Lebensbedingungen.

Während der Mauser in das Konturgefieder äußern Gössel den "Wi"- Laut (jetzt ein leises Schnattern) nur noch als bloßen Stimmfühlungslaut (Äußerung der Zusammengehörigkeit) ohne Halsbewegung. An dessen bisherige Stelle tritt das tiefere und laute Schnattern mit Halsvorstrecken als Angriffsgeste, mit der Fremden gedroht wird oder als Ausdruck gemeinsamer Abwehr. Als Warnhaltung ( Bild 2b ) ist das Hochrecken von Hals und Kopf anzusehen; sie geht mit schrillem Warnruf einher. Fluchtbereitschaft äußert sich in übertriebener Unterwürfigkeitsgebärde, d. h. in senkrecht nach unten gebogenem Hals und Kopf, mangelnder Kampfbereitschaft (Demutsgebärde Bild 4), im Einziehen und Zurücknehmen von Kopf und Hals, dem sogenannten "Winkelhals" ( Bild 3b ). 

Die Beziehung zum Futter kommt bei Gänsen nicht nur durch Lernvorgänge zustande. Gänse wie Enten haben eine angeborene Vorliebe für grün, sowie für Pflanzen mit feinen und zerteilten Blattspreiten (Möhrenkraut) oder mit schmalen Blättern (Gräser). Ein Augenmaß für verzehrbare Größe besitzen sie nicht wie andere Geflügelarten, weil sie von zu großen Futterbrocken Teile abknabbern können, z. B. Möhren und Äpfel. Unter den Getreidearten ziehen Gänse das weichere und längere Haferkorn allen anderen Getreidearten bei Weitem vor. Gänse achten außer auf die Korngröße auch auf die Farbe, Härte, Feuchtigkeit, Oberflächenbeschaffenheit- rau und haarig sind unbeliebte, glatt beliebte Merkmale- sowie auf den Geschmack ihres Futters. Dabei hat der Tastsinn den Vorrang. Der Geschmack kommt erst zur Geltung, wenn taktil nichts zu beanstanden ist. Am empfindlichsten reagieren Gänse auf saure und salzige Lösungen, bitter ist ihnen unangenehm, süß dagegen im gewissen Umfange angenehm. Die Schmackhaftigkeit ist aber unter allen Merkmalen, die ein Futter reizvoll machen, die unsicherste Größe. Auf der Weide lernen sie schnell die verschiedenen Pflanzenarten zu unterscheiden, wobei sie sich nach der Zartheit und leichten Verzehrbarkeit richten. Große individuelle Unterschiede treten bei ihnen kaum auf. Vielleicht hängt es mit ihrem familären Bindungstrieb zusammen, dass alle das fressen wollen, was eine gerade zu sich nimmt. 

Bild 1 =    Kontaktaufnahme der Gössel zur Mutter durch "Wi"- Laut

Bild 2a =  Schnattern

Bild 2b =  Warnhaltung

Bild 3a =  Unterwürfigkeitsgebärde

Bild 3b =  Winkelhals

Bild 4 =    Ausgeprägte Demutshaltung

 

2. Das Erwachsenenalter

Die wildlebenden Graugänse haben wie die übrigen Wassergeflügelarten ritualisierte Balz- und Paarungsweisen entwickelt. Unter ihnen kommt dem sogenannten Triumphgeschrei die größte Wirkung zu. Während der Werbung unternimmt der Ganter einen echten oder scheinbaren Angriff selbst auf stärkere Gegner und stößt beim Zurückkehren zur umworbenen Gans unter Hals- und Kopfhochrecken ein lautes, trompetenartiges Geschrei aus. Stimmt die weibliche Gans in dieses Triumphgeschrei ein, ist die Ehe geschlossen. Dieses gemeinsame Erlebnis bindet die Partner enger aneinander als die Paarung selbst.

In der Haustierhaltung der Gänse ist auch dieses Verhalten zerfallen, es hat seinen ursprünglichen Bezug verloren und tritt als selbstständige, isolierte Bewegung vornehmlich beim Ganter nach dem Tretakt auf ( Bild 1 ). Charakteristisch für das genannte Verhalten ist außer dem typischen Geschrei das Hochrecken des Halses. Auf dem Land kann Flügelschlagen oder Ausbreiten hinzukommen. Erhalten hat sich, trotz der Ausweitung der Sexualität und dem weit früheren Eintritt der Geschlechtsreife (im ersten statt im zweiten Lebensjahr), die größere sexuelle Aktivität der weiblichen Gans, denn von ihr geht weiterhin die Aufforderung zur Paarung aus. Auch die Beschränkung auf wenige und bestimmte Sexualpartner blieb bestehen, wenn sie sich auch ein wenig lockerte, d. h. auf mehrere erstreckte. Zahme Gänse kennen sich wie Hühner u. a. persönlich: Durch Federverlust im Gesichtsbereich lässt sich keine Gans für ihren Gefährten unkenntlich machen. Nach welchen Merkmalen sich Gänse untereinander erkennen ist noch nicht geklärt. Anscheinend spielen Besonderheiten der Schnabelform sowie das Auge, die Kopfform, auch die Stimme eine Rolle. So achten Gänse z. B. genau auf die Gefiederfarbe ihrer Partner und lehnen oft anders gefärbte -graue Gänse z. B. weiße und umgekehrt- starrsinnig ab. Vor Fremden und auch bei der Werbung zeigen Gänse ein Prahl- oder Imponiergehabe, das auf dem Wasser durch Anheben der Flügel, Aufrichten und Hochrecken zu einer scheinbaren Vergrößerung des Körperumfangs beiträgt (Koggenhaltung Bild 2) oder durch Krümmen des Halses beeindrucken soll (Bogenhals Bild 2), zumal sich die imponierende Gans dem Betrachter möglichst mit der Breitseite zu präsentieren sucht. Auf dem Lande gehört zum Imponieren das Anheben der Flügel und das Hochrecken des Kopfes (in den Nacken werfen Bild 3) bei tief gesenktem Hals. Als Beschwichtigungsgebärde, die oft der Paarung voraus geht, ist das Halseintauchen oder Gründeln anzusehen. Paarungswillige Ganter führen es besonders heftig aus. Die Paarungsbereitschaft ist bei älteren Gantern größer. Etwa 15 bis 30 Tage vor dem Legebeginn sind die Gänse zur Paarung bereit, während der Legeperiode oftmals nur an legefreien Tagen. Bei Beobachtungen, die sich drei Monate hinzogen, registrierten Forscher im Durchschnitt 40 Paarungen je legende Gans, einzelne Ganter traten bis zu neun Gänse. Doch ist die Befruchtung in kleinen Stämmen besser als in solchen mit 1,4 bis 1,7 Tieren. Auch die Alterszusammenstellung ist wichtig. Bei Stämmen, die aus älteren Gänsen und einjährigen Gantern bestanden, verbesserten sich die anfangs mäßigen Befruchtungsergebnisse während der Zuchtsaison, wobei es gleichgültig war, ob eine oder zwei Gänse zum Zuchtstamm gehörten. Umgekehrt hatten aus mehrjährigen Gantern und einjährigen Gänsen zusammengesetzte Zuchten von Anfang an eine hohe Befruchtungsrate, die während der Zuchtperiode nicht nachließ. Veränderungen aller Art, sei es in der Haltung, der Zusammensetzung des Zuchtstammes oder in den Witterungs- und Beleuchtungsverhältnissen, können das Verhalten der Gänse, insbesondere das der Ganter, stark beeinflussen.

Künstliche Beleuchtung im Herbst lässt z. B. den Legebeginn eher eintreten und Ganter im Alter von zehn bis elf Monaten geschlechtsreif werden, doch sinken im Frühjahr Eizahl und Befruchtungsrate stark herab und wenn sich die Legeleistung gegen Saisonende auch wieder verbessert, so bleibt die Befruchtung mangelhaft, zumal die Spermaqualität am Ende der Zuchtperiode auch unter normalen Verhältnissen erheblich nachlässt. Bei im November künstlich 14 Stunden beleuchteten Gantern beginnt im Januar die Samenproduktion und hört im Juni auf.  Bei erwachsenen Gänsen bleibt die im Jugendalter ausgekämpfte Rangordnung erhalten, wenn die Tiere beisammen bleiben; mit hinzu kommenden fremden Gänsen gibt es Auseinandersetzungen, die schnell entschieden werden. Ganter greifen sich unter kräftigen Flügelschlägen an, beißen sich im Brustgefieder oder am Hals des Gegners fest. Begegnen sie sich im Wasser, versucht jeder den Gegner unter Wasser zu drücken. Der Unterlegene nimmt unter Zurückziehen von Hals und Kopf die schon bekannte Demutshaltung ein, wird aber von Ranghöheren immer wieder angedroht und weggebissen. Auf die Ausdauer beim Kampf übt die Größe der Familie deutlichen Einfluss aus. Ganter kämpfen um so hartnäckiger, je größer ihr Anhang ist. Auch ältere Gänse zeigen mehr Ausdauer als Einjährige.

Gänse sind ihrem ganzen Verhalten nach auf ein Leben mit weiten freien Flächen eingestellt, wo ihnen ihre Sehschärfe (Fernsicht) sehr zu Gute kommt. Deshalb scheuen sie sich vor Hecken, Gebüsch u. ä. und betreten ungern Wege, auf denen ihnen die Übersicht durch Gebäude oder Hecken und der gleichen genommen ist.

Ihre Futteransprüche scheinen groß zu sein, weil Gänse wählerisch sind. Dabei spielt oft weniger die Futterart als solche eine Rolle, als vielmehr das geringe Fressbedürfnis. Sobald Gänse eine gewisse Masse mit entsprechendem Fettansatz erreicht haben, verspüren sie wohl kaum Hunger. Ebenso geht die Futteraufnahme während der Zuchtperiode zurück, sodass es sich empfiehlt, ihnen dann an Eiweiß oder Kalorien reicheres Futter anzubieten. Unter den Pressfuttertypen ziehen die Gänse die Teilchengrösse 6 mm allen anderen vor. Die recht großen Maiskörner beknabbern sie, bevor sie diese fressen. Weicht man den Mais ein, wodurch er weicher und zugleich größer wird, nehmen ihn die Gänse nur ungern auf- für sie ist eine gewisse Kornhärte erforderlich. Haben sie die Wahl zwischen ungleich feuchten Schroten, ziehen sie die feuchtere vor. Wahrscheinlich richten sich die Gänse vor allem nach der Verzehrbarkeit, die mit dem Tastsinn geprüft wird.

 

 Bild 1 = oben:  Verhalten nach dem Tretakt

Bild 2 = mitte links:  Imponiergehabe

Bild 2 = mitte rechts:  Koggenhaltung

Bild 3 = unten:  Hochrecken des Kopfes, in den Nacken werfen

Karl-Heinz Tuma, 49448 Lemförde

 

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